Die Masken-Maskerade1

8 Minuten Lesezeit

Nassim Nicholas Taleb

Inkompetenz und Fehler bei der Argumentation rund um Gesichtsbedeckungen

Sechs Fehler:

  1. Nicht-berücksichtigen des sich verstärkenden Effekts von Masken.
  2. Nicht-berücksichtigen der nicht-linearen Infektionswahrscheinlichkeit.
  3. Verwechseln von “Fehlen von Beweisen” (der Vorteile des Maskentragens) mit “Beweis für das Fehlen” (der Vorteile des Maskentragens).
  4. Nicht-begreifen, dass Menschen keine Regierungen für die Herstellung von Gesichtsbedeckungen benötigen: Sie können ihre eigenen herstellen.
  5. Nicht-berücksichtigen des sich verstärkenden Effekts statistischer Signale.
  6. Ignorieren des Nichtaggressionsprinzips durch Pseudoliberale (Masken sind auch dafür da, andere vor Dir zu schützen; es ist ein multiplikativer Prozess: Jede Person, die Du ansteckst, wird auch andere anstecken.)

Tatsächlich können Masken (und Gesichtsschutz) ergänzt um das Einschränken von sog. “Superverbreiter-Veranstaltungen” (“Superspreader Events”) uns im Hinblick auf zukünftige Ausgangssperren und Rechtsstreitigkeiten Billionen von Dollar sparen. Sie können möglicherweise auch ausreichen (bei adäquater Einhaltung der Vorgaben), die Pandemie einzudämmen. Bürokraten lieben jedoch keine einfachen Lösungen.

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1. Nicht-berücksichtigen des sich verstärkenden Effekts

Menschen, die in Klausuren gut abschneiden (und dann Bürokraten, Volkswirte oder Parteisoldaten werden) sind meiner Erfahrung nicht gut darin, nicht-lineare und dynamische Zusammenhänge zu verstehen.

Die WHO, CDC und andere Beamtenapparate haben anfangs darin versagt, umgehend zu erkennen, dass die Vorteile von Masken sich gegenseitig verstärken. Dies ist aus dem einfachen Grund so, weil zwei Menschen sie tragen und man die Interaktionen betrachten muss.

Lasst uns der Einfachheit halber annehmen, dass Masken sowohl die Übertragung als auch die Aufnahme auf \(p\) reduzieren. Welchen Effekt hätte dies auf \(R_0\)? [Basisreproduktionszahl, siehe dazu z.B. die FAQ des Robert Koch-Instituts.]

Der naive Ansatz (verwendet von CDC-/WHO-Bürokraten und anderen Schwachköpfen) ist es, zu sagen: Wenn Masken die Übertragungswahrscheinlichkeit auf \(p=1/4\) reduzieren, dann fällt z.B. \(R_0=5\) auf \(R_0=5/4\). Enorm, aber es ist besser, denn man sollte beide Seiten berücksichtigen. In unserer Vereinfachung mit \(p=1/4\) erhalten wir \(R_0'=p^2R_0\), also einen Rückgang um 93,75% [wegen \((1-0,25^2)\)], wir teilen \(R\) durch 16 [wegen \((R \times 1/4^2)\)]. Sogar wenn Masken nur zu 50% funktionieren, erhalten wir einen Rückgang um 75% [wegen \((1-0,5^2)\) bzw. \((R \times 1/2^2)\)].

2. Nicht-berücksichtigen der Nichtlinearität des Infektionsrisikos

Der Fehler liegt darin zu denken, dass wenn man sich dem Virus z.B. um 1/2 weniger aussetzt, dann würde auch das Risiko, also die Infektionswahrscheinlichkeit, um 1/2 reduziert werden. Nicht ganz. Die Wahrscheinlichkeit muss einer nicht-linearen Dosis-Wirkung-Kurve folgen, einer S-Kurve. In dem konvexen Teil der Kurve sind Zugewinne überproportional groß. Eine Reduktion um \(x\%\) an viraler Dosis (Exponiertheit) führt zu einem sehr viel größeren Rückgang als \(x\%\) beim Infektionsrisiko. Und offenkundig sind wir im konvexen Teil der Kurve.

[Ergänzung bei der Übersetzung: Für viele Menschen ist dieser Teil nicht intuitiv zu verstehen, deshalb hier der Versuch einer zusätzlichen Erklärung.

  • Die Eigenschaften von Dosis-Wirkung-Kurven (nicht-linear, teilweise konvex etc.) in der Medizin wird von Taleb in dem Paper “(Anti)Fragility and Convex Responses in Medicine” aus dem Jahr 2018 sehr intensiv analysiert und diskutiert. Es ist sehr technisch und hier zu finden: https://arxiv.org/abs/1808.00065
  • Das Thema der Konvexität und ihre Auswirkungen auf viele Bereiche unseres Lebens wird in seinem Buch “Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen” sehr ausführlich und vor allem anschaulich behandelt. Bei Funktionskurven beschreibt das Attribut “konvex”, dass diese nach außen gewölbt sind und dass ihre Kurve unterhalb jeder Verbindungsstrecke von zweien ihrer Punkte liegt. In Talebs Büchern verwendet er dafür den lachenden Smiley :blush: als Eselsbrücke, im Gegensatz zu “konkav” :worried:.

Deutlicher wird dies hoffentlich anhand eines (fiktiven) Beispiels, wie im Schaubild dargestellt:

  • Schutzmaßnahmen reduzieren die Dosis \(d\) von 0,5 auf 0,2, also um 60%.
  • Das Infektionsrisiko \(f(d)\) sinkt von 50% (0,5) auf 8% (0,08), also um 84%. Dies ist mit konvex und nicht-linear gemeint. ]

3. Verwechseln von “Fehlen von Beweisen” mit “Beweis für das Fehlen”

“Es gibt keinen Beweis, dass Masken helfen”, dies habe ich wiederholt von den üblichen Idioten gehört, die sich selbst “Evidenz-basierte” Wissenschaftler nennen. Es geht im übertragenen Sinne darum, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass eine verschlossene Haustür mich heute Nacht vor einem Einbruch bewahren wird. Aber alles, was [im Rahmen der Pandemie] eine Übertragung verhindern könnte, könnte helfen. Im Gegensatz zur Schule geht es im echten Leben nicht um Gewissheit. Im Zweifel nimmt man den Schutz, den man hat. Einige führten auch die fehlerhafte Rationalisierung an, Masken würden zu falscher Zuversicht führen: Tatsächlich gibt es starke Argument dafür, dass Masken wachsamer gegenüber den Risiken machen und zu einem zurückhaltenden Verhalten führen.

[Ergänzung bei der Übersetzung: Zum Thema der Evidenz-basierten Wissenschaft gibt es einen Cartoon von Stefan Gasic:

  • Volkswirt: “Es ist dumm zu handeln, bevor man einen Beweis hat.”
  • P-Vogel: “So wie das Anlegen eines Sicherheitsgurtes vor einem Unfall?”
  • P-Vogel: “Habe ich gerade die Evidenz-basierte Wissenschaft mit einem Satz widerlegt?”
  • Volkswirt: “Hey, ich habe auch geholfen.”

Stefans Cartoons sind hier als Sammelbände verfügbar. ]

4. Den Markt und die Menschen falsch verstehen

Paternalistische Bürokraten haben die Bevölkerung nicht dazu aufgerufen Masken zu tragen. Als Gründe wurden genannt, die Vorräte wären begrenzt und würden von medizinischen Fachkräften benötigt werden. Also logen sie uns an und sagten “Masken sind nicht wirksam.” Sie haben den Einfallsreichtum und Fleiß der Menschen nicht begriffen, die keine Regierung benötigen, um Masken für sie zu produzieren. Diese Menschen können schnell so gut wie alles in gut funktionierende, schützende Gesichtsbedeckungen verwandeln, z.B. Lumpen, in die Kaffeefilter eingenäht werden…so gut wie alles. Außerdem haben Bürokraten keine Ahnung von Märkten und der Existenz von Opportunisten, die Menschen mit allem versorgen können, was diese benötigen.

5. Nicht-berücksichtigen extrem starker statistischer Signale

Viele Menschen, die mit Statistik zu haben, denken entweder in mechanistischen Konzepten (z.B. Korrelation), die sie nicht verstehen oder in lokalen Ergebnissen. Sie fürchten sich davor “Anekdoten” vorzustellen und übersehen dabei den Gedanken von statistischen Signalen, bei denen man sich die ganze Geschichte anschaut und nicht nur die Einzelteile. Denn auch hier häufen sich die Anhaltspunkte. Wir haben…

  1. …die Geschichte, in der zwei infizierte Friseure nicht alle ihrer 140 Kunden infiziert haben. [Siehe Bericht der CDC.] Dadurch können wir die Infektionswahrscheinlichkeit bei beiderseitigem Maskentragen auf sicher unter 1% ansetzen, bei der Exponiertheit im Stile eines Frisiersalons [siehe hierzu auch die Anmerkung unten]. Wir kennen die Infektionswahrscheinlichkeit für Menschen ohne Masken durch 10.000e Datenpunkte und die unterschiedlichen Abschätzungen von \(R_0\).

  2. …die Infektionsraten von Ländern, in denen das Tragen von Masken verpflichtend war.

  3. …zig Veröffentlichungen mit mehr oder weniger fehlerhafter Methodik etc.

6. Das Nichtaggressionsprinzip

“Liberale” (in Anführungszeichen) wehren sich gegen das Tragen von Masken auf der Basis, dass es ihre Freiheit einschränken würde. Dabei fußt das ganze Konzept von Freiheit auf dem Nichtaggressionsprinzip, dem Äquivalent der “Silbernen Regel”: Schädige andere nicht; im Gegenzug sollen sie Dich nicht schädigen.

[Ergänzung bei der Übersetzung: Taleb beschreibt in seinem Buch “Skin in the Game” die “Silberne Regel” als negative “Goldene Regel”: Tue anderen Menschen das nicht an, was sie auch Dir nicht antun sollen.]

Aber noch beleidigender ist die Forderung von Pseudoliberalen, dass es Costco [Großhandelskette in den USA] verboten sein sollte, von Kunden das Tragen von Masken zu verlangen – aber Liberalismus erlaubt es einem, die Regeln auf dem eigenen Grundstück festzulegen. Für Costco sollte es möglich sein, von seinen Kunden das Tragen von rosa Hemden und lila Brillen zu verlangen, wenn sie es wollen.

Achtung: Wenn Du eine andere Person ansteckst, infizierst Du nicht einfach nur eine andere Person. Du infizierst viele, viele mehr und verursachst systemisches Risiko. [Siehe hierzu den Artikel “Die moralische Verpflichtung der Vorsicht – Individuelles und systemisches Risiko” von Nassim Nicholas Taleb und Joseph Norman.]

Trage eine Maske. Anderen Menschen zuliebe.


Anmerkungen (im Original von Nassim Nicholas Taleb)

  1. Ich empfehle die sehr, sehr, sehr wenigen Autoren, so wie Zeynep Tufekci, die den Kampf in den Medien gekämpft haben.

  2. Ich glaube wirklich, dass die Pseudoliberalen Soziopathen sind und Misanthropen sind. Dabei sind sie auf der Suche nach einer politischen Partei von der sie glauben, sie passe zu ihrer Misanthropie.

  3. Effektivität von Masken und statistische Signale (maximal vereinfachte Erklärung)

Der Frisiersalon: Was ist die Wahrscheinlichkeit, 0 Infektionen zu haben, wenn beide Friseure je 70 Kunden bedienen und wenn die Infektionswahrscheinlichkeit \(p\) ist?

Tipp: Es ist dieselbe, als würde ein einzelner Friseur 140 Kunden bedienen, \((1-p)^{140}\), weil \((1-p)^{70} \times (1-p)^{70}\). Siehe für dieses Beispiel auch die graphische Darstellung:

\(p\) \((1-p)^{140}\)
0. 1.
0.0005 0.932377
0.001 0.869297
0.0015 0.810456
0.002 0.755572
0.0025 0.704379
0.003 0.656632

Fußnoten

  1. Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “The Masks Masquerade” von Nassim Nicholas Taleb, der am 14.06.2020 erschienen ist. https://medium.com/incerto/the-masks-masquerade-7de897b517b7